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1926Abrahams Geburt
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6. Oktober 1942Flucht
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Dezember 1943Versteck
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April 1946Hungerstreik
In den Sommerferien fuhr Abraham immer mit seiner Familie in den Urlaub. Meist reisten sie nicht weit: In seiner polnischen Heimat gab es schöne Ferienorte. Besonders gut kann sich Abraham an den Sommer 1939 erinnern, an den Sommer vor Kriegsbeginn also. Damals verbrachte die Familie Wajntraub ihren Urlaub in dem kleinen Dorf Rudnik, das etwa sieben Kilometer von Abrahams Heimatstadt Międzyrzec entfernt lag. Das Wetter war herrlich und Abraham konnte mit seinen Freund/-innen draußen toben.
»Krieg lag in der Luft, die Ruhelosigkeit und viele Gerüchte hatten uns […] den ganzen Sommer über begleitet. Als Kinder beschäftigte uns das nicht weiter, doch unsere Eltern haben sich vermutlich Sorgen gemacht ...«
Eigentlich hatte Abraham bis zu diesem Zeitpunkt ein relativ sorgloses Leben geführt. Seine Eltern hatten 1924 in der polnischen Hauptstadt Warschau geheiratet und bald darauf, 1926, wurde Abraham geboren. Doch seine Schwester Chaja ließ länger auf sich warten, denn beide Eltern waren berufstätig.
»Trotz unserer relativ guten finanziellen Situation, wollte meine Mutter arbeiten und betrieb eine Schneiderwerkstatt für die Frauen der Stadt. Nahezu jeden Monat reiste sie nach Warschau, um neue Modelle abzuholen. […] Das war wahrscheinlich der Grund dafür, dass ich bis zu meinem zehnten Lebensjahr ein Einzelkind war – zu dieser Zeit durchaus nicht üblich. Die Geburt meiner Schwester war für uns alle eine große Freude. Traurigerweise kann ich mich nicht genau daran erinnern, wann sie geboren wurde, aber ich werde ihre blonden Locken niemals vergessen.«
Abrahams Vater dagegen war Großhändler von Lebensmitteln und viel unterwegs. Von seinen Reisen brachte er immer etwas mit. Besonders liebte Abraham den Geruch von Heringen, die sein Vater am Danziger Hafen, nahe der Ostsee, kaufte.
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Abraham besuchte in Międzyrzec ein polnisch-jüdisches Gymnasium. In der Schule war die Unterrichtssprache Polnisch, aber Abraham lernte auch Hebräisch. Er mochte seine Lehrer/-innen, und besonders die Fächer Mathematik, Physik und Englisch machten ihm viel Spaß. Auf dieser Aufnahme aus dem Jahr 1939 ist Abraham mit seiner damaligen Schulklasse zu sehen. Er hat sich die Mühe gemacht und die Namen jedes Einzelnen vermerkt. Abraham selbst ist mit der Zahl 22 markiert.
Wieso wurde Abrahams Heimatstadt auch »Kleines Amerika« genannt?
Mezeritch ist die jiddische Bezeichnung für die Stadt Międzyrzec Podlaski. Dort hatten Juden und Jüdinnen schon seit Jahrhunderten gelebt. In den 1920er Jahren machten sie rund drei Viertel der Stadtbevölkerung aus – etwa 9.000 Menschen. Im Ort stand eine große Synagoge, in der 3.000 Personen Platz fanden. Es gab drei Tageszeitungen, ein jüdisches Krankenhaus und eine freiwillige Feuerwehr. Międzyrzec war eine wohlhabende Stadt. Durch die Ansiedlung einer bedeutenden Bürstenindustrie waren viele Arbeitsplätze entstanden. Außerdem gab es in der Stadt noch viele andere kleine Betriebe und Fabriken. Międzyrzec war deshalb auch als »Kleines Amerika« bekannt.
An dem Tag, als der Zweite Weltkrieg begann, wollte Abraham eigentlich zur Schule gehen. Es war der erste Schultag nach den großen Ferien. Doch daraus wurde nichts. Zwar hatte er schon seine Tasche gepackt und sich mit Freund/-innen verabredet, aber keine einzige Schule der Stadt öffnete ihre Pforten.
»Eigentlich kann man sagen, dass Chaos ausbrach und alles beherrschte. […] Das unmittelbare Kriegsgeschehen haben wir nur in der Nacht zwischen dem 8. und dem 9. September gespürt, als Stukas Mezeritch mit Brandbomben bombardierten.«
Viele Häuser gingen in Flammen auf. Das Stadtzentrum wurde nahezu vollständig zerstört. Am 9. Oktober 1939 besetzte schließlich die deutsche Wehrmacht Abrahams Heimatstadt. Die Ereignisse überschlugen sich: Das polnisch-jüdische Gymnasium, das Abraham besuchte, wurde geschlossen. Abrahams Vater, der Lebensmittelhändler war, sollte seinen Besitz an die deutschen Behörden abgeben. Die Gestapo beschlagnahmte die zwei Lagerhäuser, in denen er seine Waren aufbewahrte. Der Familie blieb kaum etwas übrig.
Eines Tages kam Abraham an einer deutschen Soldatengruppe vorbei. Laut den deutschen Verordnungen mussten Juden und Jüdinnen, wenn sie deutschen Soldaten begegneten, ihre Mütze abnehmen. Abraham kannte zwar die Verordnung, wollte sich aber von den Deutschen nicht demütigen lassen. So wechselte er die Straßenseite, um ihnen keinen Respekt zollen zu müssen. Doch das fiel auf, denn die deutschen Besatzer zwangen alle Juden und Jüdinnen, auch Abraham, eine weiße Armbinde mit dem Davidstern darauf zu tragen. Die Soldaten schrien nach Abraham. Sie schnauzten ihn an: »Warum nimmst Du die Mütze nicht ab?«. Eine Antwort warteten sie gar nicht erst ab. Stattdessen schlugen sie auf ihn ein.
Bei dieser Attacke auf die jüdische Bevölkerung sollte es nicht bleiben. Ende August 1942 wurde in Międzyrzec ein ganzer Wohnbezirk abgesperrt und zum Ghetto erklärt. Alle Juden und Jüdinnen der Stadt mussten dorthin ziehen. Aber Abraham hatte Glück und musste nicht ins Ghetto.
»In dieser Zeit haben die Eltern Geld bezahlt – ich weiß nicht wem – und sie haben für mich eine Einrichtung geschaffen. Einrichtung, das ist ein Ausbildungsplatz, wenn du so ein Dokument hattest [mit] ein[em] Stempel von der Gestapo, dann hattest du gedacht, dass du einigermaßen abgesichert bist, meine Arbeit war im Magistrat.
Wir waren eine Gruppe von etwa dreißig Jungs, die meisten aus meiner Schule. Wir haben den Stadtingenieur begleitet. Er hat solche Karten erstellt mit Stäben, mit denen man die Stadtkarten macht. Ich lief durch die ganze Stadt in der ganzen (Zeit) in Mezeritch und noch weiter in andere Dörfer und für uns war das sehr gut. Ich konnte etwas zu essen für die Familie kaufen, und […] sie gaben uns einen Platz zum wohnen und wir hatten solche Dokumente […], von [der] Gestapo unterschrieben […], da haben wir gedacht, es könnte helfen«
Abrahams Eltern hatten also einen Deutschen mit viel Geld bestochen und ihrem Sohn auf diese Weise einen Arbeitsplatz bei der deutschen Stadtverwaltung besorgt. Er bekam neue Ausweispapiere mit einem Stempel der Gestapo, die ihn als wichtigen Arbeiter auswiesen. So verdiente Abraham nicht nur Geld, sondern seine Eltern hofften auch, dass er vor den drohenden Deportationen – und damit vor dem Tod – geschützt sein würde. Von da an lebte Abraham nicht mehr bei seinen Eltern und seiner Schwester, sondern allein in der Stadt.
Wie sah es im Ghetto von Międzyrzec aus?
Das Ghetto von Międzyrzec war völlig überfüllt. Abraham schätzt, dass etwa 15.000 Menschen zur selben Zeit in den wenigen Straßenzügen leben mussten. Die Bedingungen waren katastrophal. Es gab kaum Lebensmittel, und immer wieder organisierten die deutschen Besatzer Razzien. SS- und Polizeieinheiten verschleppten auch Juden und Jüdinnen aus den umliegenden Dörfern und Städten in das Ghetto. Von hier aus deportierten deutsche Polizisten sie nach kurzer Zeit in das Vernichtungslager Treblinka oder zur Zwangsarbeit. Auf diese Weise wurden innerhalb eines Jahres (von August 1942 bis Juli 1943) etwa 24.000 Menschen durch das Ghetto geschleust.
So schmuggelte Abraham Essen für seine Familie
Abraham wollte alles tun, um seinen Eltern und seiner kleinen Schwester Chaja im Ghetto zu helfen. Dort waren Lebensmittel knapp, und Abrahams Familie litt Hunger.
»Jeder von uns hatte noch ein bisschen Familie im Ghetto, und im Ghetto gab es nichts zu essen, und wir haben in der Lubelska-Straße gewohnt, und in der Nähe […] war eine polnische Bäckerei. Nachts kauften wir, alle Kinder, die noch Familie im Ghetto hatten, Brot. Das Brot war noch […] so frisch, und wir kauften zwei, drei solche Brotlaibe.«
»Wir kannten die Stadt gut, trotz der deutschen Polizeistreifen. Aber diese Polizeistreifen. [Es] waren fünf Militärpolizisten die zusammen gingen. Sie hatten solche Schuhe […] mit eiserne[r Verstärkung]. Das hörte man in der ganzen Stadt nachts. […] Wir gingen um vier, um fünf, um sechs morgens zurück.«
Es musste stockfinster sein. Wenn der Mond schien und die Straßen erleuchtete, konnten die Jungen leichter geschnappt werden. In diesem Fall hätten sie mit dem Tod rechnen müssen.
Abraham zerstörte lieber seine Wertsachen, als sie den Deutschen zu geben
Im Dezember 1942 gab es eine neue Schikane im Ghetto von Międzyrzec. Es war Winter und furchtbar kalt. Doch die deutschen Besatzer zwangen alle Juden und Jüdinnen, ihre warmen Pelzmäntel abzugeben. Zu dieser Zeit belagerten deutsche Soldaten die russische Stadt Stalingrad. Sie waren jedoch von der Armee der Sowjetunion eingekesselt worden. Die Pelze sollten den Soldaten an der Front helfen, den Winter zu überstehen. Doch Abraham und seine Familie wollten um keinen Preis den Feldzug der Deutschen unterstützen.
»Ich erinnere mich, Mutti hatte einen Karakulpelz. Da haben wir den mit der Schere zerschnitten, ja. Damit man ihn nicht benutzen kann. Und wir versuchten, ihn zu verbrennen, aber […] wir konnte ihn nicht verbrennen, weil es schwierig war, ihn anzuzünden. Aber wir haben alles getan, damit man ihn nicht benutzen konnte.«
An einem Oktobermorgen des Jahres 1942 machte sich Abraham gerade für die Arbeit fertig, als er die Schreie »Juden raus!« hörte. Sie kamen von deutschen Polizisten aus Hamburg. Sie trieben Abraham – zusammen mit seinem Vater, Cousin und tausenden anderen jüdischen Menschen – zum Marktplatz und sperrten sie in der großen Synagoge der Stadt ein. Erst drei Tage später wurden die Tore wieder geöffnet. Abraham musste im Laufschritt, unter den ständigen Schreien und Schlägen der Polizisten, zum Bahnhof rennen.
Abraham und sein Vater fanden sich in einem überfüllten Waggon wieder. Es war dunkel. Bedrohliche Stille. Abraham hatte Angst. Er hatte schon früher davon gehört, dass Menschen verschleppt wurden, aber niemand wusste, wohin und wozu. Nie war jemand von dieser Reise zurückgekehrt.
Als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, sagte sein Vater zu Abraham: »Du musst fliehen!«. Der Waggon hatte kleine Fenster, die mit Draht vergittert waren. In ihrer Verzweiflung rissen die zusammengepferchten Menschen den Draht ab und machten so eine Flucht möglich: »Wer springen will, soll springen!«.
Doch Abraham wollte nicht springen. Er wollte seinen Vater um keinen Preis zurücklassen. Was würde mit ihm am Ende der Fahrt geschehen? Würde er ihn jemals wiedersehen? Aber es blieb ihm keine Zeit zu zweifeln: Sein Vater wollte unbedingt, dass er sprang.
Die Anderen halfen Abraham, sich durch das Waggonfenster zu quetschen. Sie hoben ihn hoch und schoben ihn mit den Beinen voran aus dem kleinen Fenster. Von außen hielt sich Abraham noch kurz fest. Dann ließ er sich fallen. Mitten hinein in die Dunkelheit. Er konnte nichts sehen, wusste nicht, wohin er fiel. Aber Abraham hatte Glück: Er schaffte es! Er war frei und unverletzt. Während der Zug in der Ferne verschwand, lief Abraham an den Gleisen entlang allein ins Ghetto zurück.
Was waren das für deutsche Polizisten?
Das Hamburger Reservepolizeibataillon 101 war seit Juli im Raum Lublin stationiert. Es bestand aus 500 Hamburger Polizisten, die in Polen dazu eingesetzt wurden, Juden und Jüdinnen in kleineren Orten zusammenzutreiben. Sie verschleppten die Männer, Frauen und Kinder in Ghettos oder Lager. Dabei gingen sie mit äußerster Brutalität vor.
Das Bataillon 101 führte auch mehrere Massenerschießungen durch. Insgesamt ermordeten die deutschen Polizisten mindestens 38.000 Menschen. In Abrahams Heimatstadt machten sie mehrfach Station.
»Ich sah Massen von Menschen auf dem Boden sitzen und warten. Wer aufstand – wurde erschossen.«
»Inmitten des Tumults entdeckte ich einige Aktivisten, die mit verschiedenen Ausreden versuchten, ihre Familienmitglieder vom Platz zu holen.«
»Das war ein sehr warmer Tag, über dreißig Grad.«
»Es war sehr schwierig. Zwei Kinder. Sie töteten dort kleine Kinder, weil sie zu weinen anfingen.«
» […] das Geräusch der bellenden Hunde.«
»Du bist dann wie gelähmt.«
»Wir waren so schmutzig, so müde, so ohne Hoffnung, wurden von Menschen getrennt.«
»Und ich saß auf jemandem, sie hatten ihn erschossen, weil ich nicht sitzen, nicht aufstehen konnte, saß ich auf ihm.«
»Sie alle marschierten zum Bahnhof.«
»Und wir sind dort hingegangen, und ich habe zurückgeschaut, und, so sieht es aus: Eine Reihe von Familien, Erwachsenen und Kindern bewegte sich langsam auf das Unbekannte zu.«
»Eine lange Karawane, scheinbar endlos.«
»Die Deutschen um sie herum begleiteten sie mit Schreien und Schüssen.«
»Da auf dem Platz sind zurückgeblieben Tote und kleine Kinder.«
Abraham war Zeuge, wie ein Freund erschossen wurde
Drei Tage lang war Abraham in der völlig überfüllten Synagoge der Stadt eingesperrt. Etwa 7.000 Menschen waren zusammengepfercht in einem für 3.000 Personen eingerichteten Gebäude.
»Ich ging nach unten, und da haben sie ein bisschen Brot durch die Fenster geworfen, die Ukrainer [meint hier: ukrainische Helfer der deutschen Polizei]. Als es dann nach unten fiel, haben sie geschossen. Da bin ich an einem Tag dort runter gegangen und neben mir stand mein Bekannter, ich erinnere mich noch an seinen Namen (Wassermann), und alle wollten das Brot nehmen. Dort stand ein Ukrainer und hat auf ihn geschossen, er hat hier eine Kugel bekommen [zeigt auf den Bauch]. Ich habe gesehen wie all die Gedärme da rauskamen. Die lagen dort, ich sehe das noch heute. […] Er stand hier, ich stand hier. Ich habe nicht die Sprache, um das zu beschreiben. Ich weiß nicht, es ist etwas Schreckliches, was da war. Nach drei Tagen, wir waren dort drei Tage in dieser Synagoge. Dann haben sie uns gesagt ›jetzt zum Bahnhof‹, und auf dem Weg zum Bahnhof wurden Dutzend Menschen erschossen und meistens Frauen mit Kindern, wenn die Kinder klein waren.«
Was geschah mit Abrahams Mutter?
Abrahams Mutter und seine kleine Schwester waren nicht zum Marktplatz gebracht worden. Sie lebten nach wie vor im Ghetto.
Dann kam der 1. Mai 1943. An diesem Tag führten die deutschen Polizisten eine erneute »Aktion« durch. Dieses Mal wurden Abrahams Mutter Gittle und seine Schwester Chaja verschleppt. Sie sollten mit einem Zug in das Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek gebracht werden. Abraham sah sie nie wieder.
Jahrzehnte später, Abraham lebte bereits in Israel, bekam er einen Anruf. Eine Frau namens Perl war am Telefon. Sie erzählte ihm, dass sie damals mit Gittle und Chaja im Zug nach Majdanek gesessen habe. In ihrem Waggon hatten die zusammengepferchten Menschen es geschafft, die Tür zu öffnen. Die Frau gab an, gesehen zu haben, wie Abrahams Mutter seine kleine Schwester aus dem Zug warf und selbst hinterher sprang.
Abraham war außer sich: Hatten seine Mutter und seine kleine Schwester doch überlebt? Wenn ja, wo könnten sie sein? Hatten sie einen anderen Namen angenommen? Abraham weiß bis heute keine Antwort auf diese Fragen.
Es war der Sommer 1943. Abraham spürte schon seit Tagen, dass etwas passieren würde. Das Ghetto von Międzyrzec sollte aufgelöst und die letzten Juden und Jüdinnen in das Vernichtungslager Treblinka deportiert werden. Abraham war nicht überrascht, als deutsche Soldaten das Ghetto umstellten: »Ich wusste es schon, ich wusste, dass es das Ende ist. Ich schrie den anderen zu: ›Wir laufen weg!‹«. Er zögerte nicht, sondern rannte los. Durch den unbewachten Stacheldrahtzaun gelangte er auf die davorliegende Wiese. Um ihn herum lauter Menschen, die ebenfalls auf der Flucht waren. Er rannte los, so schnell er konnte. Doch wohin? Wo würde er sicher sein?
Abraham versteckte sich den ganzen Sommer über in einem Wald in der Nähe seiner Heimatstadt. Es war warm genug, um im Freien zu schlafen. Er ernährte sich von Beeren und anderen Früchten, die im Wald wuchsen.
Als der Winter einbrach und es zu schneien begann, wusste Abraham, dass er hier nicht bleiben konnte. Er würde keine Nahrung mehr finden und über kurz oder lang erfrieren. Verzweifelt suchte er nach einer Bleibe. Da fiel ihm der polnische Förster ein, der früher oft seine Eltern besucht hatte. Er wohnte in einem Haus mitten im Wald. Sicher würde er ihm helfen.
Doch das war nicht so einfach. Der Förster hatte Angst davor, einen Juden bei sich aufzunehmen. Er fürchtete um sein eigenes Leben, wenn er Abraham versteckte. Er wollte bezahlt werden und forderte eine hohe Geldsumme. Abraham hatte Glück. Seine Eltern hatten ihm für Notfälle US-amerikanische Dollar zugesteckt. Die Währung war zu dieser Zeit sehr viel wert, fast alles konnte man für Dollar kaufen.
Der Förster stimmte zu. Er wusste genau, wo er Abraham verstecken wollte: Unter dem Schweinestall hatte er einen Hohlraum eingebaut. Zwei Meter lang und eineinhalb Meter breit. Aufrecht stehen konnte Abraham darin nicht, nur liegen. Es gab dort kein Licht, nur ein kleines Luftloch, damit Abraham nicht erstickte. Einmal am Tag brachte der Förster ein bisschen Milch und ein kleines Stück Brot.
In diesem Versteck überlebte Abraham monatelang. Nur nachts konnte er sich manchmal herausschleichen und etwas frische Luft schnappen.
»Am 17. Juli 1943 war ich im Ghetto. Da war ich ungefähr im (Süden) und ich wusste, dass sie kommen und, wie sagt man das?
Frage: Umstellen
Abraham: das Ghetto und ich wusste es schon, ich wusste, dass es das Ende ist. Ich begann zu fliehen. Ich floh über so eine Wiese. Der Draht war nicht so ... Sie haben das nicht bewacht. Das war so eine Wiese, noch ein paar, 200 Meter und dann kam die Krzna. Man musste über das Wasser und etwa drei Kilometer zum Wald. Ich fing an zu rennen, und ich sah, dass auch viele [andere] Menschen fliehen. Ich traf keinen von den Menschen und nach 400 Metern, 500 Metern hörte ich, dass sie die ganze Zeit auf diese Wiese schießen. Aber ich bin geflohen und habe den Wald erreicht, und weiter hatte ich keine Ahnung, was ich machen würde, es gab kein Ghetto [mehr], wo soll man hin, es war im Wald im Sommer. Es war sehr gut im Wald im Sommer. Es war sehr gut. Es gab dort viele Walderdbeeren. Es gab dort Gärten mit verschiedenem (Obst), wo ich etwas essen konnte. Das war bis zum Zeitpunkt, ich weiß nicht genau, wann es begann, wie sagt man das, kälter zu werden.
Frage: Es war kalt ja?
Abraham: Es war kalt. Sehr kalt. Aber das war nicht mehr, ich weiß nicht ob es November war oder es kann auch Dezember gewesen sein. Da konnte ich irgendwie im Wald leben, aber es begann zu schneien, und ich wusste nicht [mehr], was ich tun sollte.«
Mit der Rettung von Abraham riskierte der Förster sein Leben
Eines Tages erfuhr Abraham aus einer Zeitung vom Näherkommen der sowjetischen Armee. Bald würden sie Międzyrzec erreichen! Es war Juli 1944 und Abraham lebte nun schon seit Monaten in seinem Versteck. Ein polnischer Förster hatte ihm in einem kleinen Hohlraum unter seinem Schweinestall Unterschlupf gewährt.
Bald schon hörte Abraham in der Ferne Schüsse. Er konnte es kaum glauben, die Rote Armee war tatsächlich in Międzyrzec angekommen. Er war frei und musste sich nicht mehr verstecken! Sofort machte er sich auf den Weg in die Stadt.
»Es gibt keine Menschen auf den Straßen. Nichts. Man hört nur das Schießen von allen Seiten. Einige Deutsche sind in der Kirche auf dem Marktplatz geblieben und sie haben dort geschossen. […] Ich ging in die Stadt. Ich wusste nicht, wohin ich gehe. Als ich am Marktplatz ankam, sah ich einige Menschen stehen und, ich weiß nicht, sie tanzten.«
Nur wenige Wochen später verließ Abraham seine Heimatstadt für immer. Es gab keinen Grund mehr für ihn, dort zu bleiben. Seine gesamte Familie war von den Deutschen ermordet worden. Im Frühjahr 1946 kam er in Italien an. Von dort aus wollte er ein Auswandererschiff nach Palästina besteigen: Dort sollte seine neue Heimat sein.
Doch so reibungslos, wie erhofft, ging Abrahams Plan nicht auf. Er bekam keine Genehmigung zur Ausreise nach Palästina. Damals gab es noch keinen Staat Israel und die zuständigen britischen Behörden erlaubten nur wenigen Menschen, sich dort anzusiedeln. Zusammen mit hunderten anderer Juden und Jüdinnen die ebenfalls auswandern wollten saß er fest. Abraham und die anderen wollten sich aber nicht unterkriegen lassen. Sie beschlossen, einen Hungerstreik auszurufen und solange nichts mehr zu essen, bis sie eine Ausreisegenehmigung erhielten!
Schaue Dir hier an, wie Abraham um die Einreise in seine neue Heimat kämpfen musste
Der Hungerstreik dauerte über einen Monat. Inzwischen hatte sich die Presse eingeschaltet. Sogar das US-amerikanische Time Magazine berichtete über die jüdischen Flüchtlinge. Erst jetzt gab die britische Regierung nach: Alle jüdischen Auswanderungswilligen würden die Ausreisegenehmigung bekommen und in wenigen Tagen auf zwei Schiffen lossegeln.
Nach fast zwei Wochen auf See stieg Abraham am 19. Mai 1946 in Haifa, Palästina, von Bord.
Wie sah Abraham eigentlich als junger Mann aus?
Diese Ausweispapiere wurden Abraham am 26. August 1946 in Tel Aviv ausgestellt. Damals stand Palästina unter der Verwaltung Großbritanniens. Den Staat Israel gab es zu dieser Zeit noch nicht. Daher sind die Ausweispapiere sowie die Angaben darauf auf Englisch geschrieben. Abrahams voller Name »Abraham Wejntraub« (dort schrieb man seinen Nachnamen mit »e« statt »a« auf) ist genauso angegeben, wie seine Größe (»5 Feet 5 Inches« = 1, 66 Meter) und seine Haarfarbe (»blond«). Als Beruf hat Abraham damals »labourer«, also »Arbeiter« angegeben.
So sah Abrahams neues Leben aus
In Palästina angekommen, baute sich Abraham ein neues Leben auf. Zunächst diente er in der Armee. Als Soldat musste Abraham seinen Namen in die hebräische Sprache übersetzen. In Anlehnung an seinen eigentlichen Nachnamen »Wajntraub« nannte sich Abraham nach dem hebräischen Wort für »Weinstock«: »Gefen«.
Nachdem er seine spätere Frau Rina kennengelernt hatte, änderte er seinen Beruf. Sie wollte nicht, dass er weiterhin als Soldat sein Leben riskierte. Am 8. Februar 1951 heirateten die beiden. Auch Rina hatte während des Zweiten Weltkrieges Schlimmes erlebt. Als junges Mädchen war sie vor den Nationalsozialisten bis nach Russland geflohen. Zusammen bekamen Abraham und Rina zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen und betrieben ein erfolgreiches Textilgeschäft in Tel Aviv.
Lange redete Abraham nicht über seine Vergangenheit
Über Jahrzehnte hinweg erzählte Abraham kaum jemandem, was er in seiner Jugend erlebt hatte. Doch als er sich zur Ruhe setzte, begannen ihn seine Erinnerungen zu quälen.
Abraham war einer der wenigen Überlebenden aus seinem Heimatort. Kaum etwas war noch über Międzyrzec bekannt. Die jüdische Geschichte der Stadt drohte für immer in Vergessenheit zu geraten. Abraham beschloss zu handeln: Er trat der Landsmannschaft seiner Heimatstadt bei, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, der Ermordeten zu gedenken und die Erinnerung an Międzyrzec zu bewahren. 1995 – fünfzig Jahre nach seiner Auswanderung – reiste er schließlich mit seinen beiden Kindern erstmals wieder nach Polen. Abraham schrieb seine Erinnerungen nieder. Sie wurden auf Hebräisch veröffentlicht.
»Warum ich meine Lebensgeschichte aufgeschrieben habe? So, wie ich sie geschrieben habe, war es vielleicht ein emotionales Bedürfnis. Vielleicht auch der Wunsch, das Wissen darum, wer wir sind und wo wir herkamen, an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Obwohl die Geschichte unseres Volkes Tausende von Jahren zurückreicht, hatte unsere Generation, die den Holocaust durchlebte, nur eine sehr kurze Geschichte. In Mezeritch beispielsweise ist keine Spur der jüdischen Vergangenheit erhalten geblieben. Alles wurde zerstört und von den Nazis niedergebrannt. Alles, was wir haben, stammt aus polnischen Quellen.«
Hier kannst Du die Internetseite der Landsmannschaft Mezeritch anschauen: https://eng.mezritch.org.il/Home.
Jahrzehnte später konnte Abraham ein Denkmal für seine Familie, Freund/-innen und Nachbar/-innen enthüllen
Abraham hatte sich lange ein Denkmal auf dem Marktplatz in seiner alten Heimatstadt Międzyrzec gewünscht. Als er 2006 die israelische Bildhauerin Yael Artzi kennenlernte, war ihm sofort klar: Sie sollte das Denkmal errichten. Artzi hatte bereits einige Denkmäler gestaltet und war sofort begeistert von der Idee. Weltweit suchte sie nach einem besonderen Stein. In Indien fand sie schließlich einen zwei Tonnen schweren Block roten Granits. Diesen verarbeitete sie zu einer Skulptur. Artzi nennt ihr Werk Tefila, das hebräische Wort für Gebet. Es erinnert an die Tausenden jüdischen Männer, Frauen und Kinder, die von den Männern des Reservepolizeibataillons 101 auf den Marktplatz getrieben wurden und dort über Stunden zusammengekauert sitzen mussten.
»In den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts war Mezeritch eine blühende Stadt, mit einer bedeutenden Industrie, kulturellen Einrichtungen und einem jüdischen Krankenhaus – alles für das Wohlergehen der Bürger: Juden und Polen. Zu dieser Zeit sprachen nicht alle Juden Polnisch, aber viele Polen sprachen Jiddisch. All dies wurde von den Nazis innerhalb der fünfjährigen Besatzung, und später durch die sowjetische Herrschaft zerstört und ausgelöscht – ohne auch nur eine Spur des aktiven jüdischen Lebens zu hinterlassen, das es hier über Generationen hinweg gegeben hat.
An dem Platz, wo wir jetzt stehen, hat das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte stattgefunden. Noch heute kann man nicht begreifen, wie dieses geplante Böse und diese sinnlose Grausamkeit möglich waren? Hier wurden Tausende von Männern, Frauen und Kindern ermordet. Von hier aus gingen alle sieben Deportationen (Aktionen) auf ihre letzte Reise zur Bahnstation, eine Spur niedergemetzelter alter Menschen, Kinder und Säuglinge und solchen, die nicht Schritt halten konnten, hinterlassend. Am 6. Oktober 1942 saß auch ich hier, umgeben von Horror, und sah, wie meine Liebsten ermordet wurden. Dieser Platz war damals rot gefärbt – von rotem jüdischen Blut.«