
















Erna wurde sie von allen nur Unku gerufen. Ihre Eltern fanden schon bei der Geburt, der Name passe zu ihr. Erna war ein fröhliches Kind, lachte viel und schloss schnell Freundschaften. Am liebsten spielte sie draußen, auf den Straßen oder in der freien Natur. Das war in Berlin-Wedding, Mitte der 1920er Jahre, als noch nicht so viele Autos auf den Straßen fuhren wie heutzutage.
Der Wedding war eine typische Arbeitergegend. Im Bekanntenkreis von Ernas Familie gab es einige, die politisch links eingestellt waren. Andere interessierten sich nicht für Politik. Ihre Hauptsorge war, wie sie ihre Familie durch den nächsten Monat bringen sollten. Viel Geld hatte im Wedding niemand.
Wald-Frieda erklärt Ernas Spitznamen
Die Filmemacherin Jana Müller führte mit der Sinteza Wald-Frieda Weiss ein Interview. Die alte Dame kannte Erna aus dem »Zigeunerlager« im Magdeburger Holzweg, wo beide gezwungen waren, zu leben. Hier erklärt Wald-Frieda, wie Unku zu ihrem Namen kam. Wahrscheinlich ist mit »Unku« ein kleiner, beweglicher Froschlurch gemeint, der dem quirligen Charakter der kleinen Erna entsprach.
Diese Szene stammt aus dem Film »Was mit Unku geschah - Das kurze Leben der Erna Lauenburger«: Jugendforschungsprojekt, Leitung Jana Müller, Deutschland 2009, 35 min.
Der Film ist erhältlich über das Alternative Jugendzentrum Dessau.
Auf den Straßen Berlins
Erna eroberte sich mit ihrer aufgeschlossenen Art einen Platz in den Herzen der Menschen um sie herum. Eines Tages wurde sogar eine junge Schriftstellerin auf das Mädchen aufmerksam. Sie schrieb eine Geschichte, in der Erna eine Hauptrolle spielte. »Ede und Unku« nannte die Schriftstellerin ihr Kinderbuch. Ede war ein Freund von Unku, die beiden heckten gemeinsam viele Streiche aus. Von den Erlebnissen der beiden Kinder auf den Straßen Berlins handelte das Buch. Und von der Atmosphäre im Arbeiterviertel Wedding, den Kämpfen zwischen linken Gruppen und rechten Nationalsozialisten.
Wie lernte Erna ihren besten Freund kennen?
Die Schriftstellerin Alex Wedding, die Erna gut kannte, hat in ihrem Buch beschrieben, wie sich Ede und Unku kennenlernten. Das erste Mal trafen sie sich auf einem Rummelplatz. Ede vertrieb einen Jungen, der das Mädchen ärgerte und beleidigte.
Ede: »Du, sag mal – du bist doch nicht wirklich ne Zigeunerin?!«
Unku: »Was denn sonst?«
Ede: »Donnerwetter! Da hat der Junge also Recht gehabt!«
Unku: »Du glaubst also auch, dass wir Zigeuner Kinder schlachten?«
Ede: »Nee…nee…das nicht gerade! Aber…mein Vater hat mir mal gesagt, dass die Zigeuner Kinder stehlen…und dass sie auch sonst gern klauen.«
Unku: »Ach, was sollten wir denn mit den Kindern machen? Wo wir doch selbst schon gerade genug sind! Und auch sonst klauen wir nicht! Wir klauen überhaupt nicht!«
Ede: »Ach, was einem die Großen für einen Quatsch erzählen! Und ich Kamel glaubs auch noch!«
Seit diesem Tag waren Ede und Erna eng miteinander befreundet. Sie verloren sich erst aus den Augen, als Erna mit ihrer Familie nach Magdeburg zog.
Diese Frau schrieb das Buch über Erna
Alex Wedding lernte Erna in der Reinickendorfer Papierstraße kennen und freundete sich schnell mit dem lebhaften Mädchen an.
»Damals – es war im April 1929, und von euch war noch keiner geboren – sah ich Unku zum ersten Mal. Wir wohnten in Berlin, in Reinickendorf, und ich schlenderte, glücklich über das Frühlingswetter, durch die Gegend, bis ich zum Stadtrand kam. […] Als ich den Fuß des Hangs erreicht hatte, bemerkte ich ein paar Zigeunerwagen, die hier bislang nicht gewesen waren. Der größte von ihnen war frisch grün gestrichen und trug zwischen seinen Fenstern Verzierungen: Reitpeitschen und Hufeisen. Aus der Tür kam ein etwa zehnjähriges bloßfüßiges Mädchen geklettert. Die Kleine steckte in einem abgerissenen Kleid und wirkte doch elegant in ihrer Geschmeidigkeit. […] Ich konnte meinen Blick nicht abwenden von den großen spitzbübischen Augen unter der seidigen Ponyfrisur, von dem breiten, beschwingten Mund, der beim Lachen kräftige weiße Zähne sehen ließ. […] Mit diesem kleinen Zigeunermädchen schloss ich innige Freundschaft. Bald ging Unku – sehr zum Verdruss meiner spießigen Nachbarn – bei mir ein und aus.«
Erna war eine Sinteza. Das heißt, sie gehörte der Minderheit der Sinti an. Die weibliche Mehrzahl lautet übrigens Sintize. Sinti und Sintize leben schon seit dem 15. Jahrhundert in den heute deutschen Gebieten. Früher war der Begriff »Zigeuner« für Sinti und andere Gruppen, wie Roma oder Aschkali, sehr verbreitet. Heute möchten die meisten Angehörigen der Minderheit nicht mehr so genannt werden.
Hauptrolle in einem Buch – und dann wurde es verbrannt
»Ede und Unku« erschien 1931. Doch nur zwei Jahre später verbrannten es Studierende und Hochschulprofessoren zusammen mit hunderten anderen Werken auf dem Berliner Opernplatz (heute Bebelplatz). Es stand auf einer »Schwarzen Liste« von über 200 unerwünschten Büchern, die Wolfgang Herrmann, Bibliothekar und überzeugter Nationalsozialist, erstellt hatte.
Eine Geschichte, die von der Freundschaft zwischen einer Sinteza und einem »arischen« Jungen handelte, sollte nicht mehr gelesen werden. So landete ein harmloses Kinderbuch im Feuer.
Einer, der der Verbrennung seiner Bücher persönlich beiwohnte, war der bekannte Kinderbuchautor Erich Kästner, Autor von Werken wie »Emil und die Detektive« und »Das fliegende Klassenzimmer«.
»Und im Jahre 1933 wurden meine Bücher in Berlin, auf dem großen Platz neben der Staatsoper, von einem gewissen Herrn Goebbels mit düster feierlichem Pomp verbrannt. Vierundzwanzig deutsche Schriftsteller, die symbolisch für immer ausgetilgt werden sollten, rief er triumphierend beim Namen. Ich war der einzige der Vierundzwanzig, der persönlich erschienen war, um dieser theatralischen Frechheit beizuwohnen. Ich stand vor der Universität, eingekeilt zwischen Studenten in SA-Uniform, den Blüten der Nation, sah unsere Bücher in die zuckenden Flammen fliegen und hörte die schmalzigen Tiraden des kleinen abgefeimten Lügners.«
Erna zog Anfang der 1930er Jahre mit ihrer gesamten Familie nach Magdeburg um. Inzwischen war sie zu einer jungen Frau herangewachsen. Das Foto zeigt sie zu dieser Zeit:
Außerdem verliebte sie sich in einen jungen Mann, Otto. Er war zwei Jahre älter als Erna und musste genau wie sie seit einiger Zeit im sogenannten »Zigeunerlager« im Magdeburger Holzweg leben.
Aus der Liebe der beiden ging ein Kind hervor: Als Erna 18 war, brachte sie ein kleines Mädchen zur Welt. Weil Otto jedoch von der Kriminalpolizei verhaftet und in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt worden war, konnte er seiner Freundin bei der Geburt nicht zur Seite stehen.
Erna muss es deswegen sehr schlecht gegangen sein. Nicht nur, dass ihr Freund einfach weggeholt worden war – jetzt saß sie auch noch mit der kleinen Maria alleine da. Nur gut, dass Familie und Freund/-innen zu ihr hielten und sie unterstützten.
Aber die Lage wurde immer brenzliger. Nicht nur, dass auch Erna eines Tages grundlos von der Kriminalpolizei vorgeladen wurde, auch ihre Tochter war in Gefahr. Denn Wissenschaftler/-innen aus Berlin waren daran interessiert, das kleine Mädchen zu untersuchen.
Was weiß man über Ernas Tochter?
Ernas Tochter Maria kam im Sommer zur Welt, am 25. August 1938. Sie war noch nicht einmal drei Jahre alt, da kamen Mitarbeitende der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« aus Berlin und erstellten ein Gutachten über das kleine Mädchen. Das Urteil stand schnell fest: Als »Zigeunermischling plus« stuften sie sie ein. Dieses rassistische Wort bedeutet, dass Maria Vorfahren hatte, die Sinti und Sintize waren, und solche die keine waren. Aus Sicht der »Wissenschaftler/-innen« galt die Dreijährige als »minderwertig«.
Solche hochoffiziell aussehenden Bögen wurden oft zum Todesurteil für die untersuchten Menschen. Denn nur wenige Monate später wurden Tausende Männer, Frauen und sogar Kleinkinder wie Maria auf Grundlage dieser Gutachten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Die Nationalsozialisten ermordeten die Menschen, die in ihren Augen nicht wertvoll waren.
Erna war in einer richtig miesen Situation. Der Vater ihrer Tochter Maria war von der Polizei einfach weggeholt worden und saß schon seit drei Jahren im KZ. Das dreijährige Mädchen und sie hatten kaum etwas zu Essen. Nicht einmal Lebensmittel tauschen oder handeln durfte Erna. Von der Kriminalpolizei hatte sie nämlich die Auflage erhalten, das »Zigeunerlager« im Magdeburger Holzweg, in dem sie leben mussten, außer zur täglichen Zwangsarbeit in einem Betrieb, nicht zu verlassen. Und wie soll man sein Kind ernähren, wenn man kaum etwas zu essen bekommt?
Weder Erna noch die anderen Menschen, die auf diesem Platz festgehalten wurden, hatten sich etwas zu Schulden kommen lassen.
Die Magdeburger Kriminalpolizei hatte nach und nach alle Sinti und Sintize der Stadt vorgeladen und polizeilich erfasst. Mit Fingerabdrücken. Es wurde das Gerücht verbreitet, dass sie klauen, betteln und sogar Kinder schlachten würden. So ein Quatsch. Erna wollte einfach nur ihre Ruhe.
Und jetzt auch noch die Sache mit ihrem Chef. Seit drei Wochen wurde Erna gezwungen, in einer Fabrik zu arbeiten, die Sackleinen herstellte. Langweiliger ging es nicht, und Ernas Arbeitseifer hielt sich in Grenzen. Und deshalb hatte sie der Betriebsführer doch allen Ernstes bei der Polizei angezeigt.
»Freches Benehmen« – das sahen sich die Polizisten genauer an
Was genau zwischen Erna und dem Betriebsführer vorgefallen war, ist nicht bekannt. »Arbeitsunlust« und »freches Benehmen« warf der Mann ihr vor. Er beschwerte sich bei der Magdeburger Kriminalpolizei. Man könnte meinen, die Polizisten hätten besseres zu tun, als sich in solche Kleinigkeiten einzumischen. Aber nein: Weil im Krieg die sogenannte »Arbeitsbummelei« als schweres Vergehen angesehen wurde und auch weil die Polizisten rassistisch waren, reichten diese Vorwürfe aus.
Am 20. Mai 1941 wurde Erna zur Kriminalpolizei zitiert. Dort setzte man die 21-Jährige massiv unter Druck. Man drohte ihr mit »strengen polizeilichen Maßnahmen«, sollte sie den Anweisungen des Betriebsführers nicht Folge leisten. Das bedeutete nichts anderes als eine Haftstrafe oder sogar Konzentrationslager. Offensichtlich verfehlte die Drohung ihre Wirkung nicht – Erna arbeitete schneller. Kein Wunder. Ihre Tochter Maria wuchs schon ohne Vater auf. Was sollte aus ihr werden, wenn auch die Mutter verschwand?
Wo musste Erna leben?
Das »Zigeunerlager« im Magdeburger Holzweg war 1935 durch die Behörden eingerichtet worden. Die gesamte Fläche war nur 3000 Quadratmeter groß – viel zu wenig Platz für knapp vierzig Familien. Privatsphäre war dort ein Fremdwort. Die Stadt Magdeburg kümmerte sich weder um Wohnbaracken noch um ausreichend Toiletten oder Waschräume. Der Fluss Sülze, der durch das Lager floss, verwandelte sich daher bald in eine stinkende Kloake.
In diesem Filmausschnitt hörst Du eine Aussage des Fotografen Hanns Weltzel. Außerdem kommt die Sinteza Wald-Frieda Weiss zu Wort, die mit Erna befreundet war. Und Du kannst Dir anschauen, wie die im Film beschriebenen Orte heute aussehen. Die Szene kommt aus dem Film »Was mit Unku geschah«, erhältlich über das Alternative Jugendzentrum Dessau. Jugendliche aus Sachsen-Anhalt haben 2009, unter der Leitung von Jana Müller, monatelang daran gearbeitet. Der Film ist erhältlich über das Alternative Jugendzentrum Dessau.
Was passierte mit Ernas Freund?
Über Ernas Freund, Otto Schmidt, ist nur das bekannt, was in den Polizeiakten über ihn vermerkt ist. Sinti und Roma wurden nämlich registriert und ihnen wurden auch Fingerabdrücke abgenommen. Für Ottos Verhaftung gab es keinen triftigen Grund. Der Zeitpunkt – Juni 1938 – weist darauf hin, dass sie im Rahmen einer landesweiten Verhaftungswelle stattfand, bei der Personen als »arbeitsscheu« verdächtigt und einfach eingesperrt werden konnten. Sinti und Roma fielen wegen der rassistischen Vorurteile gegen sie pauschal unter diese Verdächtigung, egal ob sie arbeiteten oder nicht.
Otto war etwa zwanzig Jahre alt, meist schlug er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. In den Akten taucht wiederholt der Vermerk »Musiker« als Berufsbezeichnung auf. Offenbar hatte er eine Zeit lang woanders gewohnt, doch meldete er sich gleich nach seiner Ankunft in Magdeburg beim Arbeitsamt.
Nach Ottos Verhaftung durch die Magdeburger Kriminalpolizei musste er über vier Jahre im Konzentrationslager Buchenwald verbringen. Dort starb er am 20. November 1942, angeblich an einer Lungenentzündung. Heute weiß man, dass Otto Schmidt Opfer medizinischer Experimente wurde. Seine Tochter Maria lernte er nie kennen.
Im Morgengrauen des 1. März 1943 umstellten Polizisten mit Hunden Ernas Wohnplatz. Die 470 Männer, Frauen und Kinder, die im »Zigeunerlager« im Magdeburger Holzweg leben mussten, wurden jäh aus dem Schlaf gerissen. Bellen, Schreien, Weinen und Drohungen erfüllten die Luft. Erna und die anderen hatten gar keine andere Wahl: Sie mussten mitgehen.
Am Bahnhof mussten die Menschen in Waggons steigen. Niemand wusste, wie lange die Reise dauern würde. Nur ein Wort machte die Runde, es hing bedrohlich über den Köpfen: Auschwitz.
Fünf Tage lang Zug fahren. Kaum etwas zu essen dabei. Und dieser Durst! Das war das Schlimmste. Frische Luft gab es nicht. Wer mal musste, musste sich auf einen Eimer setzen. Der lief bald über und stank wie die Pest.
Erna erlebte ihren 23. Geburtstag inmitten dieser Hölle. Was hier passierte, stellte alles in den Schatten, was sie bislang erlebt hatte. Und doch biss sie die Zähne zusammen, denn es gab Wichtigeres, als sich selbst zu bemitleiden. Zum Beispiel ihre beiden kleinen Töchter, um die sie sich so sehr sorgte, dass sie es kaum aushielt.
Diese Szene stammt aus dem Film »Was mit Unku geschah - Das kurze Leben der Erna Lauenburger«: Jugendforschungsprojekt, Leitung Jana Müller, Deutschland 2009, 35 min. Der Film ist erhältlich über das Alternative Jugendzentrum Dessau.
Erna und ihre beiden Töchter kamen in Auschwitz an
Nachdem Ernas Freund Otto Schmidt verhaftet worden war, hatte Erna zunächst auf ihn gewartet. Doch nachdem sie jahrelang nichts von ihm gehört hatte und es auch nicht so aussah, als würde er jemals aus dem Konzentrationslager Buchenwald entlassen werden, war sie erneut eine Liebesbeziehung eingegangen.
Wer der Vater von Ernas zweiter Tochter Bärbel war, ist nicht bekannt. Als die Sinti und Sintize aus Magdeburg in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert wurden, war das kleine Mädchen erst fünf Monate alt. Oft starben Säuglinge und alte Menschen während der Deportation an Wasser- und Sauerstoffmangel. Doch die kleine Bärbel überlebte zunächst: In der Liste, in der alle in Auschwitz ankommenden Sinti und Roma verzeichnet wurden, ist auch ihr Name vermerkt. Im Lager angekommen, hatte sie jedoch keine Chance. Bärbel Lauenburger starb nur wenige Monate später, am 7. Mai 1943. Die Umstände ihres Todes sind nicht bekannt.
Was passierte mit Erna?
Der Forscher Reimar Gilsenbach traf sich 1966 mit einer Frau, die Erna gekannt hatte. Kaula war eine der wenigen aus Ernas Familie, die den nationalsozialistischen Massenmord an den Sinti und Roma überlebt hatte. Sie erzählte, wie Erna, von allen nur Unku genannt, ums Leben kam.
»Und Unku? Sie war Mutter eines kleinen Mädchens, das sie Mariechen genannt hatte. Hunger und Krankheit rafften die Sinti zu Tausenden hin. Auch Mariechen starb. Unku war vor Schmerz von Sinnen. Es heißt, sie sei schreiend aus der Baracke gestürzt und habe draußen zu tanzen begonnen, einen der alten Sinti-Tänze, bei denen die Tänzerin sich kaum von der Stelle bewegt, und die doch voll Leidenschaft sind. Tanzend habe Unku gelacht, so gellend gelacht, dass allen, die ihren Tanz sahen, das Herz erstarrt sei. Beherzte Männer hätten sie gepackt und ins Krankenrevier gebracht. Statt Hilfe und Heilung hätte sie dort ihren Mörder gefunden: SS-Arzt Dr. Mengele habe ihr eine tödliche Spritze geben lassen. So sei Unku gestorben, die junge, schöne Unku.«
Ob die Geschichte sich wirklich so zugetragen hat, wissen wir nicht. Von Ernas jüngerer Tochter Bärbel erzählte Kaula nichts. Wahrscheinlich war das kleine Mädchen noch vor ihrer Schwester gestorben. Ernas Todestag war laut Reimar Gilsenbach der 2. Juli 1943.
In der DDR war Erna unter dem Namen Unku ein Kinderbuchstar. Alle kannten die Abenteuer von Ede und Unku auf den Straßen Berlin. Millionen Schüler/-innen hatten das Buch gelesen. Aber niemand kannte Erna unter ihrem richtigen Namen, nur unter ihrem Spitznamen Unku. Und was aus dem Mädchen mit der Ponyfrisur geworden war, das wusste niemand so genau. »Ich fürchte, meine Zigeunerfreunde sind nicht mehr am Leben«, schrieb die Autorin des Buches im Vorwort einer späteren Auflage.
Eines Tages, im Jahr 1965, als der Zweite Weltkrieg seit zwanzig Jahren vorbei war, schrieb eine Frau einen Brief an die DDR-Zeitschrift »Wochenpost«. Sie beklagte sich darüber, dass sich niemand für das Schicksal der im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma interessiere. »Wir sind vergessen, niemand interessiert sich für unsere Toten, auch die Wochenpost nicht«, schrieb die Frau. Diesen Brief bekam der Journalist Reimar Gilsenbach in die Hände. Und er beschloss, etwas zu tun.
Er traf sich mit überlebenden Sinti und Sintize. Hörte sich ihre Probleme an. Sie hatten immer noch unter Diskriminierungen zu leiden. Sie waren in vielen Fällen schwerkrank aus den Lagern zurückgekehrt. Und die wenigsten von ihnen erhielten Hilfe aus irgendeiner Richtung.
Reimar Gilsenbach half, wo er konnte, und setzte sich für die Anerkennung der Sinti und Roma als Verfolgte des Naziregimes ein. In den 1970er Jahren formierte sich auch eine Bürgerrechtsbewegung, mutige Männer und Frauen, die die Rechte ihrer Verfolgtengruppe durchzusetzen versuchten.
Bis zu solchen Denkmälern war es ein weiter Weg
Obwohl das Buch »Ede und Unku« im DDR-Schulunterricht Pflichtlektüre war, wurde nicht öffentlich an das weitere Schicksal der Titelheldin Erna Lauenburger erinnert. Sinti und Roma passten nicht in das vom Staat verordnete Bild der antifaschistischen Widerstandskämpfer/-innen. Wichtiger war die Figur des Jungen Ede, der aus einer Arbeiterfamilie kam.
Reimar Gilsenbach regte immer wieder den Bau eines Denkmals an, das an Erna und die anderen Sinti und Sintize erinnern sollte. Vergebens: Die DDR-Führung stellte sich bis in die 1980er Jahre quer.
Jugendliche erstellten einen Film über Erna
Die Filmemacherin Jana Müller vom Alternativen Jugendzentrum Dessau hat mit Jugendlichen die Lebensgeschichte von Erna erforscht. Die Jugendlichen durchforsteten Archive und sprachen mit Zeitzeug/-innen. Aus den Recherchen entstand ein Film: »Was mit Unku geschah - Das kurze Leben der Erna Lauenburger«. Auch den Umgang der DDR mit den überlebenden Sinti und Roma sparten die Filmemacher/-innen nicht aus. Schau Dir hier einen Ausschnitt an:
Alex Wedding dachte noch Jahre später an Erna
Die Schriftstellerin Alex Wedding, die Erna noch aus ihrer Zeit in Berlin kannte, machte sich nach dem Krieg Gedanken zum Verbleib ihrer Freundin.
»Und Unku, Großmutter, Turant, die Vettern und Basen? Fragt lieber nicht! Ich fürchte, meine Zigeunerfreunde sind nicht mehr am Leben. Die Hitler-Barbaren haben Juden und Zigeuner verjagt, vergast und erschossen, als wären sie keine Menschen, ja nicht einmal Vieh. […] Und doch habe ich – aller Vernunft zum Trotze – die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Ede und Unku noch immer nicht ganz aufgegeben. Oft eile ich hinter Fremden her, deren Bewegungen, Haltung, Haar oder Stimme mich an sie erinnern. Aber dann sind sie’s nicht.«
Alex Wedding hat nie erfahren, dass Erna Lauenburger alias Unku in Auschwitz ermordet wurde. Sie starb, kurz bevor der Journalist Reimar Gilsenbach Ernas Geschichte aufdeckte.